Flexion

„Wie ein Wort funktioniert, kann man nicht erraten. Man muss seine Anwendung ansehen und daraus lernen.“
L. Wittgenstein 1918, Philosophische Untersuchungen

Die Beachtung grammatikalischer Regeln ist von zentraler Bedeutung für eine verständliche Sprache im Dialog. Dabei wird auch von grammatikalischer Kompetenz gesprochen, die einen integralen Teil der sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten darstellt.

Das Kleinkind erwirbt im Verlauf eines längeren Entwicklungsprozesses, der etwa im Alter von 18 bis 40 Monaten stattfindet, die grundlegenden Strukturbildungsmittel seiner Sprache. Während dieser Zeit eignet es sich die elementaren grammatikalischen Kenntnisse an, die es befähigen, seine sprachlichen Absichten auf grammatisch korrekte Weise auszudrücken. Im weiteren Verlauf dieses Lernprozesses, der bis ins Schulalter hineinreicht, entwickelt es die Fähigkeit, auch komplexere grammatikalische Konstruktionen sowohl in seiner gesprochenen als auch in seiner schriftlichen Kommunikation anzuwenden.

Im Bereich der grammatikalischen Entwicklung stehen zwei Prozesse in enger Verbindung zueinander: Die Fähigkeit, Wörter nach bestimmten Regeln aneinanderzureihen, und die Fähigkeit, Wörter nach Regeln zu verändern (zu flektieren). Eine vereinfachte Darstellung eines solchen Prozesses der Regelbildung ist auf dieser Seite dargestellt.

  1. Erwerb der Fähigkeit zur Wortreihung
    Die grundlegenden Bestandteile einer Sprache sind ihre Wörter. Diese müssen zuerst vorhanden sein, also als Mittel zur Anordnung des eigenen Ausdrucks zur Verfügung stehen, bevor sie verändert werden können. Daher kann das Auftreten erster Wörter mit stabiler Bedeutung (in der Mitte des 2. Lebensjahres) als den eigentlichen Beginn der grammatikalischen Entwicklung betrachtet werden. In dieser Phase werden oft Einwortsätze verwendet. Etwa um das Ende des zweiten Lebensjahres herum beginnt das Kind, Wörter zu kombinieren.
    Beispiele für typische erste Zweiwortsätze sind: „Auto da“, „da Mama“, „Papa alle“, „Papa auch“, „Teller weg“.
  2. Erwerb der Fähigkeit zur Flexion von Wörtern
    Kinder beginnen damit, Verben als eigenständige lexikalische Einheiten zu erlernen, die noch nicht in ihre grammatikalischen Bestandteile aufgeschlüsselt werden können (wie Stamm und grammatikalisches Suffix). Daher verfügen sie noch nicht über die Regeln zur Bildung von bestimmten Zeitformen, wie zum Beispiel der vollendeten Gegenwart oder der Vergangenheit. Obwohl das Verb korrekt im aktuellen Kontext verwendet wird (zum Beispiel mit 1;8: „aufdang“ für aufgegangen oder mit 1;9: „da, Mama bauft“ für gekauft), haben sie diese Regeln noch nicht verinnerlicht. In dieser frühen Entwicklungsphase sind Übertragungen von Flexionsformen auf neue Verben selten. Oft verwenden Kinder Verben auch in ihrer Grundform, ohne eine spezifische Markierung (zum Beispiel mit 1;8: „Papa Buch ole“ für Buch holen). Erst wenn Fehler in der Formbildung auftreten, wird deutlich, dass das Kind sich im Prozess des grammatikalischen Regelwerberwerbs befindet, insbesondere der Regeln für die Zeitformmarkierung von Verben. Diese Art der Formbildung, auch als „default-operation“ oder „Regelverstoß-Operation“ bezeichnet, wird verwendet, bis das Kind erkennt, dass es andere regelhafte Formbildungen im sprachlichen Input gibt.
Sichere Indizien für die Verfügbarkeit der Flexion als grammatikalisches Gestaltungsmittel sind:

In der Anfangsphase des Erwerbs der Regeln für die Tempusmarkierung der Verben und die Numerusmarkierung bei den Substantiven sind folgende Beispiele für typische Flexionsformen zu beobachten:

Verben

Substantive

1;10 „ohm doset“ (oben gestoßen)

2;1 „viele Autos“

1;10 „Baby an-e-zieht“ (Baby angezogen)

2;0 „siele Hause“ (viele Häuser)

2;0 „Hände waschet“ (Hände gewaschen)

2;0 „da, Bats“ (da Blätter)

2;0 „Jacke aus-e-zieht“ (Jacke ausgezogen)

2;1 „viele Buchen“ (viele Bücher)

2;2 „Daudein fundet“ (Baustein gefunden)

2;2 „viele Schwanen“ (viele Schwäne)

2;3 „Daktor rein-e-tut“ (Traktor reingetan)

2;3 „wei Keese“ (zwei Kekse)

Zu Beginn des dritten Lebensjahres zeigt sich eine vereinfachte Darstellung der kindlichen Plural-Regelbildung für häufig vorkommende Wörter wie „Jungs“ und das Wort „Mädchen“.

1. Phase: Analyse des Gehörten

Ausgegangen wird von der Umgangssprache, die ein Kind regelmäßig hört und auf die sie es sich bezieht.

„Ein Junge“ – „Da sind viele Jungs“

„Ein Mädchen“ – „Da sind viele Mädchen“

 

2. Phase: Eigene Regelbildung auf Basis des Gehörten

Implizites Erfassen und Anwenden der Regel. Das Kind realisiert, dass es ein „s“ anhängen muss, um zu verdeutlichen, dass es viele Jungen sind. Es schließt weiter, dass die gleiche Regel auch für das Wort „Mädchen“ gilt.

„Da, viele Jungs“

„Da, viele Mädchens“

 

3. Phase: Vervollständigung der erschlossenen Regel

Korrektur der Regel. Das Kind hört nie „Mädchens“ und schließt daraus, dass es nicht richtig sein kann. Gleichzeitig hört es „Die Jungen“ und „Die Jungs“, die beide die gleiche Bedeutung haben. Daraus schließt es, dass beides richtig ist.

„Da, viele Jungs“

„Da sind viele Jungen“

„Da, viele Mädchen“